Happy 1st birthday!

Am heutigen 6. März 2021 jährt sich nun tatsächlich meine MS-Diagnose. Ein Jahr voller Höhen und Tiefen liegt hinter mir. In einem Brief an meine chronische Begleiterin lasse ich das Jahr revue passieren.

Ein Jahr mit der Diagnose Multiple Sklerose.

Ein Brief an meine MS.

Meine liebe MS ...

der heutige 6. März ist ein besonderer Tag für uns beide. Obwohl wir uns eigentlich schon etwas länger kennen, war genau heute vor einem Jahr der offizielle Tag, an ich von dir erfuhr.

 

Unser 1. gemeinsames Jahr war sehr turbulent. Du hast es ziemlich krachen lassen und mir nicht immer die Ruhe gegönnt, die ich gerne gehabt hätte. Vielleicht können wir das nächste Jahr ja etwas ruhiger angehen? Ich wäre dir sehr dankbar dafür.

 

Aber zurück auf Anfang ...

Dass etwas nicht stimmt, merkte ich eigentlich schon im November 2019, als ich nach einem High Intensive Intervall Training (Hitup) bis Weihnachten hinein taube Fußsohlen hatte. Damals hast du dich schon angekündigt. Doch leider konnte mein Hausarzt nichts Anderes tun, als mich an den Neurologen zu überweisen, der erst Mitte März einen Termin für mich frei hatte. Und so nahm unsere Geschichte einen anderen Lauf ...


Der Diagnoseschub

Es fing so harmlos an

Als ich am 29. Februar 2020 morgens mit Knieschmerzen aufwachte, ahnte ich noch nicht, was mich die kommende Woche erwarten würden. Am Vortag war die Beerdigung vom Opa meines Freundes gewesen. Es war kalt gewesen. Und überall Schnee. Deshalb hatte ich meine Stiefel angehabt - mit Absatz. Schon als Teenie habe ich immer wieder mal mit Knieschmerzen zu tun gehabt, deshalb machte ich mir an diesem Tag auch erstmal keine weiteren Gedanken.

 

Was stimmt nicht mit mir?

Beunruhigter wurde ich dann am Folgetag, als ich mein Knie nicht mehr richtig spürte. Es war taub. Und diese Taubheit breitete sich auf die Wade aus. Da sich dieses Gefühl entlang meines gesamten rechten Beins Tag für Tag weiter ausbreitete, entschloss ich mich, einen Termin beim Hausarzt zu vereinbaren - für den 3. März.

Bereits auf dem Weg zu meinem Arzt wusste ich, dass irgendwas gewaltig nicht stimmt. Ich hatte immense Probleme die Treppen herunter zu kommen. Mit den Händen am Treppengeländer festhaltend, schaffte ich es schließlich die zwei Stockwerke nach unten. Das Bein zu beugen war unfassbar schwer. Jetzt hatte ich tatsächlich große Sorgen und ich erinnere mich noch, dass mein Freund damals sagte "War schon die richtige Entscheidung, dass du einen Termin vereinbart hast."

 

 

 

 

  

Was für ein Start!

Du hast also direkt zu Beginn unserer chronischen Partnerschaft eine schöne Einweihungsparty gefeiert. Ich muss sagen, das hat mich ganz schön beängstigt. Muss also so bald nicht wieder in diesem Ausmaß vorkommen, ja?! Ich mag es lieber etwas ruhiger ...

"Gehen Sie morgen Früh in die Notaufnahme."

Wer schon mal mit Taubheitsgefühlen zu kämpfen hatte, der kennt das Gerät hier auf der linken Seite vermutlich nur zu gut. Mein Arzt untersuchte mich mit dieser Stimmgabel, indem er sie in Schwingung versetzte und mir an die Seite meiner Beine (die Seite am großen Zeh) hielt. Ich sollte sagen, wann ich nichts mehr spürte.

 

Alarmiert über das halbierte Empfinden 4/8 rechts und 5/8 links meinte er zu mir "Gehen Sie bitte morgen früh in die Notaufnahme vom Universitätsklinikum. Und packen Sie am besten ein paar Sachen ein, es kann sein, dass sie dort bleiben werden."

 

Puh, oh man ... So hatte ich mir das ja nicht vorgestellt. Aber, so hoffte ich, vielleicht hab ich mir ja einen Nerv eingeklemmt und die können das im Klinikum schnell wieder hinbekommen. Also ging ich mit gemischten Gefühlen und meinem Freund wieder nach Hause. Packen hielt ich nicht für nötig, ich bereitete nur einen kleinen Kulturbeutel vor, nur für den Worst Case, dass ich doch bleiben müsste.


Die Aufnahme im Uniklinikum

Tests über Test ...

Da waren wir nun also, meine liebe MS. Du und ich im Wartebereich der Notaufnahme. Michi, mein Freund, musste wegen Corona draußen warten und so verbrachte ich glaube ich rund 1,5 Stunden mit Warten. Dann wurde mir letztendlich ein Zugang gelegt, mir wurde das erste Blut abgenommen und irgendwann rief man mich schließlich auf.

 

Ich weiß gar nicht, ob ich mich noch an all die Tests erinnern kann, die ich dann absolvieren musste. Aber da hast du mich ganz schön geärgert!

Ich konnte keine gerade Linie laufen, bin im Einbahnstand umgefallen, bin im normalen ruhigen Stand hin und her geschwankt, als sei ich betrunken, hatte ein Lhermitte-Zeichen, der Knie-Hacke-Versuch hat nicht funktioniert - und meine persönliche Horroruntersuchung zum Schluss: Die Lumbalpunktion. Danach ging es mir richtig schlecht, ich wurde fast ohnmächtig, konnte die erste Zeit nur noch liegen. Zum Glück durfte mein Freund dann endlich zu mir und wir warteten gemeinsam auf das Ergebnis der Punktion, während ich viel Wasser zu trinken bekam.

 

 

Begriffe zum besseren Verständnis:

  • Lhermitte-Zeichen: Beim Absenken des Kinns in Richtung Brustkorb durchströmt einen eine Art Blitz - vom Hals über den gesamten Rücken herunter bis in die Extremitäten.
  • Knie-Hacke-Versuch: Man liegt auf dem Rücken und soll mit der rechten Verse auf das linke Knie tippen und dann am Schienbein entlang runter fahren. Das gleiche wird dann auch mit der linken Verse und dem rechten Knie gemacht.
  • Lumbalpunktion: Mit einer langen Nadel wird Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal entnommen.

"Damit haben Sie sich ein Bett bei uns verdient."

Zum Glück durfte mein Freund dann endlich zu mir und wir warteten gemeinsam auf das Ergebnis der Punktion, während ich viel Wasser zu trinken bekam.

Und dann, irgendwann - ich glaube es waren etwa 45 Minuten - kam das Ergebnis!

Das Nervenwasser zeigte Auffälligkeiten.

Ich hatte viel mehr Zellen als sonst üblich. Statt 4 waren es bei mir 35. Was das bedeutete, wusste ich aber in dem Moment natürlich noch nicht.

"Damit haben Sie sich ein Bett bei uns auf der Station verdient.", sagte die Ärztin zu mir.

 

Die Diagnose und die Zeit danach

Da lag ich nun also, im Uniklinikum, ließ viele Tests (VEP, MEP, SEP, MRTs) über mich ergehen, erfuhr nebenbei, dass der 1. Corona-Patient im Uniklinikum behandelt wurde (natürlich auf einer isolierten Station) und freute mich, dass jeden Tag andere Leute zu Besuch kamen. Welch unfassbares Glück ich mit dieser Besuchsmöglichkeit hatte, wurde mir erst später bewusst, als ich auf der Reha jemanden kennen lernte, der die Diagnose eine Woche nach mir bekam - im kompletten Teillockdown inklusive Besuchsverbot im Klinikum.

 

An jenem 6. März, an dem du offiziell ein Teil von mir wurdest, waren Michi, seine Schwester, ihr Freund und meine Eltern zu Besuch. Bevor meine Eltern ankamen, gingen wir zu viert in die Caféteria und aßen Currywurst. Naja, die anderen aßen Currywurst, ich hatte mit hohem Blutzucker zu kämpfen, weil ich bereits hochdosiertes Cortison bekam und hatte ohnehin keinen großen Appetit. Wir warteten dann im Aufenthaltsbereich der Station 114 auf meine Eltern, saßen dann alle gemeinsam um einen Tisch herum und hatten eine gute Zeit. Es wurde viel gelacht, ich fühlte mich gut. Vor allem, weil das Cortison ja auch schon Wirkung zeigte. 


Doch dann kamen Herr Dr. Holzapfel, der Oberarzt, und seine Assistenzärztin Frau Dr. Müller und baten mich, mit Ihnen ins Zimmer zu kommen. Dort erhielt ich dann die Diagnose. "Die Diagnose ist nun gesichert, Sie haben MS."

Mehr als ein "Okay" brachte ich nicht heraus. Schließlich wusste ich kaum etwas über dich, meine neue unsichtbare Schwester. Aber das sollte sich bald ändern. Noch im Klinikum, aber vor allem in der ersten Zeit danach informierte ich mich ausführlich über dich. Bestellte mir jede Menge Infomaterial und las mich ein. Zeit hatte ich genug, denn ich war erstmal 4 Wochen krank geschrieben, bis meine Reha beginnen würde. 


Medikamentenchaos und Schübe

Copaxone schlägt auf die Leber

So weit, so gut. Ich hatte mich also mit dir als neue chronische Begleiterin anzufreunden. Man gab mir jede Menge Infomaterial mit, in das ich mich einlesen sollte und dann letztendlich die Wahl für eine geeignete Basistherapie finden sollte. Noch im Klinikum schränkte ich meine Wahl auf Copaxone® und Tecfidera® ein. Die finale Wahl für Copaxone® fiel dann durch eine einfache Pro und Contra Liste. Hätte ich mal vorab gewusst, dass ich Copaxone nur einen einzigen Monat benutzen würde, hätte mir das sehr viel Grübelei erspartet. Aber wie heißt es so schön? Nachher ist man immer schlauer als vorher. ;)

Tecfidera wirkt nicht stark genug

Da meine Leberwerte unter Copaxone® teilweise 10-fach über der Norm waren, blieb ich den Sommer 2020 ohne Basistherapie, damit sich die Werte wieder stabilisieren konnten. Das hast du direkt schamlos ausgenutzt und mir im September einen neuen Schub in Form von tauben Waden eingebrockt. Die Folge: 3 Tage Cortison Stoßtherapie, zum Glück ambulant. Und: Medikamentenwechsel. Copaxone® als Basistherapie fiel raus. Zu lange würde es dauern, bis ein Schutz gegen dich aufgebaut sein würde. Also entschied ich mich für meinen damaligen zweiten Favoriten: Tecfidera®.

Ja, die Tabletten und ich hatten einige Startschwierigkeiten, aber letztendlich sollte auch Tec scheitern. Denn Ende Januar/Anfang Februar 2021 hatte ich einen erneuten Schub, diesmal in Wellen. Immer neue Symptome, nachdem das Cortison die alten eliminiert hat.

Umstieg auf Mavenclad

Nun stehen wir gemeinsam also vor dem nächsten Medikamentenwechsel. Und ich hoffe, diesmal bleibt es erstmal dabei. Cladribin bzw. Mavenclad® soll deine Feierlaune nun endlich in den Griff bekommen. 

 

Auf die nächsten gemeinsamen Jahre!

Tja, meine liebe MS. Meine liebe unsichtbare Schwester. Was bleibt mir da noch zu sagen? Ich bin gespannt, wie wir uns die nächsten Jahre arrangieren werden, denn obwohl du mir die tiefsten Tiefen gezeigt hast, hast du mir auch auf so vielen Ebenen die Augen geöffnet.

 

Alles Schöne erlebe ich so viel intensiver, ich bin so viel dankbarer geworden, seit es dich gibt.

 

Also ja, du kannst sehr anstrengend sein, so wie das Geschwister manchmal sind (soweit ich das als Einzelkind beurteilen kann). Aber: Wir gehören jetzt unzertrennlich zusammen und du zeigst mir auch die schönen Seiten des Lebens und hilfst mir, auf mich selbst aufzupassen. Also lass uns anstoßen auf viele weitere gemeinsame Jahre - wenn auch bitte nicht ganz so turbulent wie in diesem ersten Jahr. Danke!


Deine Julia

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